Rock bis zum Morgengrauen
Das größte Rockspektakel in der Fernsehgeschichte ist gelaufen. Und dessen
Urheber war - zur Überraschung tausender fernsehmüder Rockfreunde - niemand
anders als die sonst doch so schlafmützige ARD. Mehr als das: der europaweite
Nachhall des mitternächtlichen Paukenschlages rüttelte die TV-Bosse nachhaltig
aus ihrem musikalischen Dornröschendasein: In einem halben Jahr, so war zu
hören, steht uns schon die nächste öffentlich-rechtliche Rocknacht ins Haus.
Kein Wunder. Schließlich hatten Rory Gallagher, Little Feat und Roger McGuinn
allein in der BRD an die drei Millionen Jugendliche bis zum Morgengrauen vor
der Mattscheibe gehalten. Das "Rockpalast-Festival" geriet zu einem
füneinhalbstündigen Qualitäts Marathon mit atemberaubendem Endspurt - wenn auch
nicht ganz ohne Pannen. Für den Musik Express blickte Werner Zeppenfeld in der
Essener Grugahalle vor und hinter die Kulissen.
Die Idee zum spektakulären Fernsehfestival wurde im April vergangenen Jahres
geboren, im Verlaufe einer durchzechten Nacht. Da hatten die beiden geistigen
Väter des "Rockpalastes" zusarnmengesessen: Regisseur (Christian Wagner (26)
und Redakteur Peter Rüchel (40). Die unermüdlichen Vorkämpfer eines
rockorientierten Fernsehprogramms hatten schon geraume Zeit nach Möglichkeiten
gefahndet, zusätzliche Sendezeit loszueisen um einmal mehr bieten zu können als
die allmonatlichen, halbstündigen Konzertbruchstücke im regionalen Rockpalast.
"Normalerweise kommen einem ja die Stammtisch-Ideen vom Vorabend am nächsten
Morgen gar nicht mehr so genial vor", erinnert sich Peter Rüchel "Aber diesmal
war das anders. Ich bin gleich Zum Leiter des WDR-Familienprogramm gegangen.
Der hat die Fernsehprogrammkonferenz überzeugt; und als Werner Höfer dann noch
einen Sonderetat lockermachte, war die Sache schon gelaufen." So einfach
geht das also - warum kam bloß früher niemand auf die Idee?
Daß sich die Realisation des Festivals dann noch 15 Monate hinzögerte, hatte
seine Gründe. Ursprünglich war die Rocknacht nämlich vorgesehen als
Programmfüller zwischen Sendeschluß und frühmorgendlicher Boxweltmeisterschaft.
Aber dann schoß Muhammad Ali quer, zunächst mit einem Rücktritt und später mit
diversen Kämpfen jener Kategorie, die keinen Bundesbürger nachts um halb vier
aus den Federn reißt.
Relativ rasch war die "Rockpalast"-Mannschaft sich auch darüber klar
geworden, daß man keineswegs mehr als drei Gruppen engagieren würde, um diesen
erstmalig die Gelegenheit zu bieten, sich vor einem
Millionenpublikum voll auszuspielen. 15 Hauptgruppen kristallisierten sich mit
der Zeit aus dem umfangreichen Wunschzettel heraus, unter anderem Crosby,
Stills & Nash, Neil Young, Bob Seger, die Beach Boys und John Lennon. Der
vorgesehene Sendetermin erwies sich aber als reichlich ungünstig.
Sommertourneen und Open Air-Konzerte besonders in den Staaten,
Studioverpflichtungen für's Weihnachtsalbum,
Urlaubspläne der Musiker und sonstige Widrigkeiten ließen die Liste im Laufe
der dreimonatigen Verhandlungen rasch schrumpfen. Beim einen oder anderen mag
auch Angst vor der Unbestechlichkeit der Kamera im Spiel gewesen sein: Chris
Hillman etwa, der als Überraschungsgast noch in den rollenden TV-Expreß
steigen sollte um mit Roger McGuinn zu jammen, sprang im letzten
Augenblick wieder ab - er sei "doch nicht so ganz in Form" teilte er mit.
Rory Gallagher, Little Feat und Roger McGuinn jedenfalls waren Feuer und
Flamme - was Wunder bei solcher Gratispromotion? Dafür allerdings traten sie
faktisch auch umsonst auf. Die etwa 100 000 DM, die die ARD an Gagen auswarf,
wurden mehr als aufgefressen durch die enormen Reise und Frachtkosten. Der
exklusive Transatlantik-Trip von Little Feat etwa war so kostspielig, daß die
kalifornischen Warner Bros. wohl eine fünfstellige Dollarsumme drauflegen
mußten, um die Expedition zu ermöglichen. Der Werbeeffekt wurde offenbar so
hoch eingeschätzt, daß keine Plattenfirma Bedenken anmeldete wegen der zu
erwartenden millonenfachen Bandmitschnitte vom Fernseh oder Radiogerät. Und das
will schon was heißen bei Gruppe wie Little Feat, die mit Bootlegs schon arg
genug gebeutelt worden sind.
Kurz vor Toresschluß nahm das 350 000 DM-Spektakel dann multinationale Züge an.
Im Eurovisionsrahmen klinkten sich die Fernsehprogramme in Österreich,
Dänemark, Norwegen und Schweden voll ins Fünfstundenprogramm ein. Irland
strahlte den Auftritt von Lokalmatador Gallagher live aus, und Jugoslawien und
Portugal zeichneten zur späteren Verwendung auf. Spätestens damit katapultierte
sich die Regionalsendung "Rockpalast", die es in NRW auf durchschnittlich 400
000 bis
600 000 Zuschauer bringt, hoch in die Millionen-Einschaltquote. Nach
Spitzenwerten von etwa vier Millionen Zuschauern harrten nach WDR-Schätzungen
allein in der BRD über eine Million Jugendliche bis zum Morgengrauen vor der
Mattscheibe aus - zusätzliche Radiohörer gar nicht eingeschlossen. Dabei war
jeder vierte bundesdeutsche Jugendliche. Die Erwartungen der Programm-Macher
wurden glatt erfüllt und all jene Ewiggestrigen Lügen gestraft, die den
Bildschirm allein für den großen Schlagerschlamassel reserviert wissen
wollen.
Als die Kameras endlich Rory Gallagher ins Bild holten, standen die Fans längst
auf den Stühlen
Daß Rory Gallagher der umjubelte Star der heißen TV-Nacht werden würde,
stand im Grunde von vornherein fest - allen Bemühungen der Veranstalter zum
Trotz, Little Feat zur Hauptattraktion zu stilisieren. Die Reaktion des
Vor-Ort-Publikums in der Essener Grugahalle ließ keinerlei Zweifel daran
aufkommen, wer hier Top of the Bill" war und wer nicht. Eine Grugahalle
übrigens, die nur gut zur Hälfte besetzt war (Peter Rüchel "Wir machen
uns ja schließlich selbst Konkurrenz") - eine Tatsache, die durch geschickte
Kameraführung bei der Übertragung kaschiert wurde. Die fünf tausend von der
guten Atmosphäre mächtig angetörnte: Konzertbesucher sorgten allerdings für
eine schier umwerfend Geräuschkulisse - wenn die Musik ihren Stimmungsnerv
traf. Und da hatte Rory Gallagher nicht die geringsten Startschwierigkeiten.
Nachdem ein belgische Bluesbarde die Stimmung zusätzlich aufgewärmt hatte,
langte die Rory Gallagher-Band um Punk 22.05 Uhr voll in die Saiten. Als
Nullnummern vor dem Zuschalten der Fernsehkameras knallt sie dem Publikum ein
Programm hin, das sonst eher für Zugabe: gut ist: "Messin' With The Kid` I Take
What I Want" und "All Around Man".
Klar, daß die Fans längst auf den Stühlen standen, als sich bei "Moonchild" die
millionenfache Fernsehgemeinde dranhängte. Auch an dem kurzbeinigen Kumpel aus
Cork, der zuvor einen wahren Veitstanz auf der Bühne aufgeführt hatte, ging der
Publikums-Zuwachs nicht ganz spurlos vorüber. Im Angesicht de größten
Live-Publikum seine Lebens klang die Stimme de abgebrühten Rock-Profis anfangs
eigentümlich belegt. Spätesten beim Solobreak von "Do You Read Me" aber hatte
er sich wieder voll gefangen, und "Calling Card" rollte bluesiger den je aus
den Boxen. Rory Gallagher, 28jähriger Schwerstarbeiter an der Stratocaster,
bewies ein mal mehr, daß er seinen blues lastigen frühsiebziger Rock'n Roll
durch alle Fährnisse musikalischer Trendentwicklung hat hindurchmanövrieren
können ohne auch nur eine Unze an Popularität einzubüßen. Und auch seine Band
mit Lou Martin (keyb), Rod De Ath (dr) und Gerry McAvoy (b) steht seit 1972 wie
ein Block. Mit neuen Material wurden die Essener Fans nicht überrascht, obschon
Rory ankündigte, daß demnächst ein weiteres Bandalbum eingespielt würde; danach
wolle er sich mit einem Soloprojekt befassen, das hauptsächlich akustisches
Material enthalten soll.
"Essen-Barmbek grüßt Rory Gallagher"
Akustik - das ist auch das Stichwort, um wieder auf das Konzertgeschehen
zurückzukommen. Bei Rorys Solopart nämlich breitete sich eine zwiespältige
Stimmung im Saal aus. "Western Plain" wurde mit Pfiffen bedacht, und beim
"Barley And Grape Rag" rührte sich kaum eine Hand zum Mitklatschen.
Offensichtlich war Gallagher am Anfang zu heiß eingestiegen. Spätestens bei
"Secret Agent“ wurden aber wieder begeisterte Transparente geschwenkt
("Essen Barmbek grüßt Rory Gallagher") und bei "Souped Up Ford" tobte die Halle
wie nie zuvor. Eine Zugabe nur war laut Sendefahrplan vorgesehen (der "Bullfrog
Blues"). Durch das unüberhörbare Plebiszit des Essener Fan-Volks allerdings
kamen auch die Daheimgebliebenen in den Genuß einer musikalischen Extrawurst:
Gallagher mußte noch "Bought And Sold" ablassen.
Zwei Landfunk redakteure auf der Suche nach der "election night"
Der erste Umbau bescherte der Saalbesatzung die übliche Pausenlangeweile.
Jedenfalls schien der Produktionsetat nicht mehr dafür gereicht zu haben, in
der Halle eine Monitorleinwand zu installieren, auf der man das Füllprogramm
hätte verfolgen können, das den Zuschauern zuhause eingespielt wurde. Im
Nachhinein neige ich zu der boshaften Vermutung, daß der WDR durch den
faktischen blackout im Saal seinen beiden Moderatoren jene Publikumsreaktion
ersparen wollte, die in den vier heimischen Wänden ungehört verhallen mußte:
schallendes Gelächter nämlich. Denn was Albrecht Metzger und Hendrik Bussiek da
allen Ernstes zusammenstammelten, mutete bisweilen an wie ein Gagprogramm von
Otto: die beflissene Frage an Herrn Gallagher etwa, was denn junge Menschen
heutzutage so am Gitarrespielen fasziniere, oder das stirnrunzelnde "Is that
difficult?" nach einer Bottleneck-Demonstration von Lowell George. Die Little
Feat Leute, offensichtlich in der Annahme, daß sich da zwei Landfunkredakteure
in der Tür geirrt hatten, zogen die plappernden und keiner Übersetzung fähigen
Nonsens-Interviewer denn auch ihrerseits nach Kräften durch den Kakao. Und
dürften die Lacher auf ihrer Seite gehabt haben, zumindest im
nichtdeutschsprachigen Ausland. Jedenfalls hallte mir das hemmungslose Gejohl
der Rotte amerikanischer Roadies, mit denen zusammen ich im
Gruppenaufenthaltsraum das peinliche Spektakel an der Mattscheibe verfolgte,
noch stundenlang in den Ohren. Alle Welt schien schließlich dem Infarkt nahe,
als der am Bühneneingang postierte Hendrik Bussiek dann auch noch ein endloses
Sendeloch vor dem Little Feat-Auftritt mit der launigen Bemerkung zuzukleistern
versuchte, er würde sich fühlen "like in an election night waiting for the
winner" worauf natürlich prompt irgendein Roadie-Kollege durchs Bild
stolperte.
Gleichwohl konnte der Pausenunfug dem Fünfstundenprogramm keinerlei
nachhaltigen Abbruch tun. Schließlich war das Ganze "only rock'n roll", wie man
der Moderation mehrfach entnehmen konnte, als ihr zu guter Letzt gar nichts
mehr einfiel. Zum Erfolg der TV-Nacht trugen sicherlich auch die eingespielten
Konzertaufzeichnungen bei: Lovely Linda Ronstadt, live in Offenbach, Frankie
Miller's Full House, Ry Cooder, Leo Kottke und als später Konservenhöhepunkt
Tom Petty und seine Heartbreakers. Deren Powerpack, bestehend aus "Fooled
Again", "Strangered In The Night" und "Anything That's Rock'n Roll"
entschädigte allein schon mehrfach für all den Quatsch der Moderatoren.
Der Auftritt der eigens aus den USA eingeflogenen Band Little Feat
mobilisierte im Saal erwartungsgemäß nicht die Euphorie wie bei Gallagher.
Abwanderungsbewegungen der Hard-Rock-Mafia zum Trotz wurde Little Feats mit
rhythmischen Vertracktheiten, improvisatorischen Finessen und parodistischen
Einschüben gespickter, erdenschwerer Country-Blues aber beständig von
wohlwollendem Applaus getragen. Neckisch wackelnde Riesenkakteen halfen recht
gut über den stimmungsmäßig etwas flauen Mittelteil des Auftritts hinweg, und
die Paradeversion von "Dixie Chicken"/ Triple Face Boogie" (mit einem traumhaft
swingenden Solo von Pianist Bill Payne) setzte dem Ganzen zum Schluß ein wahres
Glanzlicht auf. Drei Zugaben wurden aus Zeitdruck en bloc gespielt: Feats Don't
Fail Me Now", "Willin" und "Rocket In My Pocket".
Hey, Mr. Tambourine Man
Daß der Auftritt von Roger McGuinn's Thunderbyrd trotz Gallagher-Absahne,
Morgengrauen und allgemeiner Publikumsmüdigkeit zu einem weiteren
Festivalhöhepunkt geraten würde, war mir klar gewesen, seit ich den 35jährigen
Ur-Byrd tags zuvor bei den Proben gesehen hatte. Souverän und locker zog
Thunderbyrd ein Programm ab, das vor brillanten Vokalsätzen und blendender
Gitarrenarbeit nur so strotzte, das Country- und Blues-, Pop- und
Balladenelernente mühelos zusammenkochte - und sich dabei stets zum Rock'n Roll
in seiner launigsten Spielart bekannte. Da konnte sogar Feat Perkussionist Sam
Clayton nicht widerstehen: auf halber Konzert Strecke baute er seine Kongas auf
und mischte mit. Schließlich war es ja auch kein weiter Weg vom "Dixie Chicken"
zum "Dixie Highway". Und nach erster "Spaceman"-Nostalgie im Hauptprogramm
folgten als Zugabe dann gegen halb fünf Uhr in der Früh jene drei mittsechziger
Byrds-Standards, die dem ohnehin relativ alten Restpublikum unter die Haut
gingen wie nichts in den mehr als fünf Stunden zuvor: "Turn Turn Turn", "Mr.
Tambourine Mann" und "Eight Miles High". Da stöberte keine abgehalfterte
Musikerexistenz in der akustischen Mottenkiste, um aus dem Lorbeer von gestern
heute nochmal Kapital zu schlagen. Nein,da träumte einer der wenigen wahrhaft
genialen Überlebenden der Beat-Ära einen Traum, der mehr als nur sein privater
ist: daß denVögeln wieder Flügel wachsen mögen.
So einen Mittsommernachtstraum im Rockpalast könnte man öfter vertragen, war
das einhellige Echo des Fernseh Fan-Volks. Die ARD reagierte schnell. In einem
knappen halben Jahr schon soll die Zweitauflage über den Äther gehen. Diesmal
allerdings -der Jahreszeit entsprechend - als Wintermärchen.
W. Z. Werner Zeppenfeld © 1977
Musik Express September 1977
Musikexpress/Sounds erscheint monatlich -
www.musikexpress.de
Werner Zeppenfeld konnte ich leider nicht erreichen, ich hoffe es bestehen keine Einwände gegen die Veröffentlichung!
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